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Matterhorn Liongrat

 

Matterhorn - von Cervinia über den Liongrat

 

Es wimmelte an Trailrunnern in der kleinen Alpenmetropole am Fusse des Matterhorns, als wir in Cervinia einfuhren und unser Hotel suchten, welches sehr zentral am Eingang der Fussgängerzone lag. "Ein sportliches Fleckchen Erde", freuten wir uns. Dass an diesem Wochenende das erste Cervino Matterhorn Ultra Race stattfand und daher so viele Trailrunner den Weg ins Valtournenche gefunden hatten, erklärte uns schliesslich die überaus bemühte Chefin unseres Hotels. Nach etwas Recherche fanden wir auch schnell heraus, wo die Wettkampfstrecke verlaufen würde und dass sie uns nur auf dem ersten Abschnitt bis zum Rif. Oriondé tangieren würde. Und auch nur dann, wenn wir zwischen 7 und 8 Uhr starten würden. Der erste "Schock" war somit schnell verdaut und eine kribbelige, vorfreudenerregte Atmosphäre machte sich breit. Was würde uns morgen Samstag am Liongrat erwarten? Wie viele Bergsteiger sind unterwegs? Werden sie uns Platz machen, wenn nötig? Wir wollen sie ja nicht bedrängen oder ihnen im Weg sein. Jedem steht es gleichwohl zu ein Fixseil als Erster vor dem anderen zu benutzen. Ob Bergsteiger oder Skyrunner, aber beim Skyrunner tickt dann doch die Uhr...

 

Wer den Film von Kilian Jornets Speedrekord gesehen hat, weiss, dass ihm der Berg an besagtem Nachmittag mehr oder weniger freigehalten wurde. Ein richtiges Volksfest wurde daraus, hunderte von Zuschauern und applaudierenden Menschen, die Kilians Rekordzeit feierten. Was er an diesem Tag leistete, ist einfach nur unvorstellbar und absolute Weltklasse. Aber dazu später mehr. Wir würden jedenfalls nicht so einen rekordverdächtigen Liongrat vorfinden und mussten uns vorab überlegen, wann wohl die beste Startzeit für uns sein würde, um möglichst keine Bergsteigertraube in den Fixseilen hängend vorzufinden. Wenn man ohne Sicherungsseil unterwegs ist, gibt es keine Marge. Demnach muss man nicht nur das eigene Können in Betracht ziehen, sondern auch externe Faktoren wie Steinschlag und andere Bergsteiger, fallende Gegenstände, etc...die einen aus dem Gleichgewicht und damit zum Absturz bringen könnten. Je weniger andere Leute zur gleichen Zeit am Berg, desto angenehmer bei einem Speedversuch.

 

Unsere Hotelchefin staunte nicht schlecht, als sie von unseren Plänen erfuhr, das Matterhorn als Tagestour zu machen. "Wie lange wir denn rechnen würden", war ihre nächste Frage. Ob ich mich übernehme, wenn ich ihr 4 Stunden für den Uphill angebe? Immerhin hatte Emelie Forsberg 3:59:26 bei ihrem Speedrekord (up+down 5:51:35. vom 19.08.2013) benötigt. Ich kenne die Route noch nicht, habe sie nicht wie Emilie mehrfach ausgecheckt, aber: ich bin ganz gut vorbereitet. Habe das Topo zigfach studiert, Tourenberichte gelesen und bin 3 Tage zuvor zu Akklimatisations- und Trainingszwecken auf der Schweizer Seite vom Schwarzsee über den Hörnligrat zum Matterhorn alleine hochgestiegen. Und ich weiss von mir, dass "onsight" bzw. "flash" mehr meinem Naturell entsprechen, als ewig langes Auschecken im Rotpunktspiel.

 

Nach einem herrlichen Frühstück mit Matterhornblick und etwas Verdauungszeit begeben wir uns also an diesem strahlendblauen Samstag nach draussen zur imaginären Startlinie beim grossen Platz vor der Kirche. Um Punkt 9:20Uhr drücke ich den Startknopf der Stoppuhr, die Zeit läuft, so wie immer. Und so wie immer jöggele ich los, ohne grosse Erwartungen, um mir selbst den Druck zu nehmen. Mit Druck kann ich nicht umgehen, also gaukel ich mir vor, nur mal schauen zu wollen. Durchaus zügig, aber eben nicht mit einem Sprint vom Start weg. Progressiv steigern ist meine Devise und sobald ich Hand an den Fels anlegen kann, ist meist sowieso sämtliche Aufregung und Anstrengung vergessen. Dann funktioniere ich, ohne nachdenken zu müssen. 

 

Bis zum Rifugio Oriondé kürzen wir meist die langen Kehren ab, die Stöcke empfinde ich für diesen Abschnitt des Aufstiegs noch als sehr angenehm und unterstützend. Die Sonne brennt und wir gönnen uns daher einen knapp 4-minütigen Stopp um eine Dose Cola die trockenen Kehlen hinunterzuschütten. Es zischt und gluckert, die Kohlensäure im Magen wabert umher. Zum Glück wird das Gelände langsam fordernder, steiler, steiniger, technischer. Die Schrittfrequenz nimmt ab, die Kraftanforderung zu, ich finde in mein Terrain hinein. Willkommen bei den Steingeisen. Auf der Höhe des Croce di Carrel lasse ich meine Stöcke zurück, ab jetzt geht es über Bänder im Zickzack steil bergauf, ab und zu braucht es die Hände um das Gleichgewicht besser halten zu können. 

 

Schnee finden wir keinen mehr vor, im Schutt rechts des üblichen Schneefelds steigen wir stetig, wenn auch etwas mühsam, unter die Testa del Leone und queren hinüber zum Colle del Leone. Dass das Carrel-Biwak naht, schmeckt man bald über die Luft. Tür auf, Tür zu, der Weg führt fast mittendurch die kleine Holzhütte. Wir finden auf Anhieb immer den richtigen Weg, Spuren unzähliger Begehungen und natürlich die Fixseile lassen mit einem geschulten Auge auch kaum zu, dass man den besten Anstiegsweg übersieht. Konstant und stetig, Kletterpassagen folgen auf Fixseile, folgen auf Gehgelände. Wir machen Meter. Bergsteiger im Abstieg, denen wir begegnen, feuern uns an, ermutigen zum "Dranbleiben". Sie machen Fixseile frei oder warten, bis wir durch sind. Das war wirklich beeindruckend zu sehen, dass auf der italienischen Seite des Matterhorns Skyrunner regelrecht gefeiert werden. Die Italiener sind fast schon fanatisch im anfeuern und zollen unendlich viel Respekt gegenüber den Sportlern. An dieser Stelle grossen Dank dafür! 

 

Die grosse Erleichterung tritt dann nach der letzten langen, luftigen Fixseilpassage ein, die Schwierigkeiten sind gemeistert, der Weg zum Gipfelkreuz frei. Weder Schnee, noch Eis hatte uns auf der gesamten Route behindert, die Steigeisen trugen wir umsonst mit. Ein Freudenschrei platzt aus mir heraus, plötzlich spüre ich wieder Kraft in mir. Zuvor war mir irgendwo im "Gehgelände" der Saft ausgegangen, Hari musste mich fast etwas antreiben. Mit schnellen Schritten bewege ich mich die letzten Meter auf das Kreuz zu, welches den Italiener Gipfel ziert. Die Uhr zeigt 3 Stunden 41 Minuten und 41 Sekunden. Krass! Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber auch krass, dass Kilian bereits seit 50 Minuten wieder unten im Tal ist. Das Ausmass bzw. die Bedeutung seiner Leistung auf diesem Gratanstieg an einem der berühmtesten Berge der Welt ist mir in diesem Moment noch stärker in Bewusstsein getreten. Das ist absolute Weltspitze und für die meisten Menschen wohl auch gar nicht nachzuvollziehen. Bei einem 2-stündigen Marathon werden die meisten Menschen zumindest noch sagen können, dass sie noch nicht einmal eine Minute in dem Tempo durchhalten könnten. Aber bei den 1:56h von Cervinia aufs Matterhorn wird der Grossteil schlichtweg nur noch den Kopf schütteln.

 

Wir sind nicht alleine am Gipfel und nutzen die Gelegenheit, ein Erinnerungsfoto von uns schiessen zu lassen. Dann gehen wir noch weiter zum Schweizer Gipfel und geniessen im Windschatten auf der Sonnenseite die Ruhe, die Friedlichkeit und den erhabenen Moment: gemeinsam als Päarchen beim ersten Mal auf dieser Route eine Zeit aufgestellt zu haben, die wir so gar nicht erwartet hätten. Hari hätte natürlich besonders im ersten Abschnitt bis zum Colle del Leone schon noch deutlich schneller können als ich, aber er wollte mich begleiten, gemeinsam mit mir am Gipfel stehen und feiern. Tausend Dank dafür! Gemeinsame Momente sind und bleiben einfach schöner als einsame.

 

Es ist spannend und gleichsam wunderbar zu sehen, wie meine, wie unsere Entwicklung von statten geht. Vom Bergsteigen zum Klettern, dann zum Ausdauersport und schliesslich kombinieren wir die drei Disziplinen zu einer einzigen: dem Skyrunning. All die 20 Jahre Erfahrung, die ich in den Bergen gesammelt habe, gipfeln in diesem Sommer in den Rekordversuchen und schnellen Begehungen von klassischen Normalwegen an hohen Bergen der Schweiz. Und das Beste: der Entwicklungsprozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Ich bin gespannt, was mich noch alles erwarten wird!...Spass macht es jedenfalls und das ist mir letztlich das wichtigste. Schnelle Zeiten hin oder her, nur wer mit Freude einer Tätigkeit nachgeht, wird auch glücklich damit werden...

 

 

Facts

16.07.2022, Startzeit 9:20Uhr in Cervinia vor der Kirche 

03:41:41 uphill (bis zum Gipfelkreuz des Matterhorns)

 

  • gemeinsam mit Hari unter Verwendung der Fixseile am Liongrat
  • Getränkestopp (Kauf einer Dose Cola) beim Rif. Oriondé
  • aufgerundete Durchgangszeiten: 55min bis Rif. Oriondé, 4min Pause beim Rif. Oriondé, 1h:04min bis Colle del Leone, 24min bis zum Rif. Carell, 1h:14min bis zum Kreuz
  • Material: Micro-Crampons (Grivel) mitgeführt, aber nicht verwendet. 1l Iso-Getränk. Stöcke bis Croce di Carell. 2 Riegel. Windjacke und langärmeliges Shirt. Handschuhe. Bargeld.

 

Wer eine wirklich gute Unterkunft in Cervinia sucht, dem sei das Hotel Gorret empfohlen! Mega zentral gelegen, mit Aussicht aufs Matterhorn, Parkplatz und bis ins kleinste Detail mit viel Liebe ausgestattet. 

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschaftlerin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

Online-Autorin SAC Tourenportal

Autorin Trailrunning Guidebook

 

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