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Sanetsch: Douce Violence

Remy-Routen sind für mich oft Fluch und Segen zugleich. Meist plattig, was ich prinzipiell liebe, mich im Vorstieg (bei den meist auch weiten Hakenabständen) aber fürchte. Dass die Routen am Sanetsch, die zu Hauf von den Remy-Brüdern hier oben erschlossen wurden, fordernd sein können, ist kein Geheimnis. Dabei wurden viele Linien mittlerweile saniert und der ein oder andere zusätzliche Bolt wanderte sogar in den kompakten, grauen Kalkpanzer.

Landschaftlich ist die Gegend am Sanetschpass einfach traumhaft. Hier herrscht meist Ruhe und Friedlichkeit, bei klarer Sicht reicht der Blick auf die Walliser 4000er wie die Dent Blanche. Dass es an der sonnenverwöhnten Kalkflucht nie so übertrieben bevölkert zugeht, hat vermutlich mit der weiten Anreise zu tun. Von Sion schlängelt sich die Passstrasse in unzähligen Kurven und Tunneln zäh hinauf, von Gsteig verkehrt zwar die Seilbahn täglich zwischen 8:30 und 17:00Uhr, doch Gsteig für sich gesehen, liegt bereits am A... der Welt. So klettern auch an diesem perfekten Herbsttag nur 3 Seilschaften auf den weiten Wandabschnitt des les Montons verteilt. Stress kommt somit keiner auf, höchstens, wenn die Kletterei mal wieder etwas länger dauert als gedacht (ja, die Schwierigkeitsangaben sollte man nicht unterschätzen!).

Nachdem ich am Vortag "Platten" in Üeschenen ob Kandersteg klettern war, bot ich Abdi an, die erste Seillänge im Vorstieg zu übernehmen. Gleich rechts eines markanten dreieckigen Dachs startet die Douce Violence (Douce angeschrieben mit roter Farbe) ein paar Meter über brüchigen Fels, bevor die Linie nach links über die graue Steilplatte emporzieht. 6b - aber definitiv kein Kinderspiel! Die Moves wollen sauber gemacht werden, die Absicherung ist expo, wenn auch so platziert, dass die Bolts gut geklippt werden können und die schweren Moves in der Nähe der Bolts sind. Trotzdem, als Auftakt ganz schön fordernd und taktangebend. Jedenfalls weiss man danach, was Sache ist. Wer hier bereits schwache Nerven bekommen hat, brauch erst gar nicht weiter klettern...

Die zweite Seillänge startet aus einer Nische heraus extrem athletisch in nicht ganz zuverlässigem Gestein, immerhin hat es diesmal reichlich Bolts. Danach verschwindet Abdi aus meiner Sichtweite, ich höre ihn noch rufen "jetzt kommt doch tatsächlich wieder eine fiese Platte". Es geht langsam vorwärts, plötzlich extrem ruckartig. Ich vermute, Abdi zieht das Seil hinauf zum Klippen. Doch Fehlanzeige! Ich gebe grosszügig Seil aus und realisiere erst, als das Seil bereits kräftig durch die 3 Exen hindurch rauscht, dass Abdi nicht Seil braucht, sondern am stürzen ist! Meine vage Vermutung, dass es sich um einen Sturz handeln muss, wird durch einen Schrei bestätigt. Meine Hand umschliesst im Nu und wie automatisch das durchlaufende Seil. Der Sturz wird abrupt abgebremst, der Schrei verhallt. "Alles ok"? Puhhh, das muss richtig weit gewesen sein! Hoffentlich ist nichts passiert! Kein Podest, auf dass er geknallt ist? Ich warte ungeduldig auf Antwort. Gleich drauf höre ich Abdi fluchen...alles in Butter.

 

Im Nachstieg wird mir dann schnell bewusst, wo Abdi abgegangen sein muss. Die Verschneidung ist wirklich fies. Die Fusstritte spärlich und die Griffe ziemlich pumpig. Dazu die Haken nicht gerade üppig platziert...irgendwie bin ich gerade froh, die Auftaktseillänge als Erste gewählt zu haben. Dieses Geschwür hätte mich ziemlich an meine Grenzen gebracht, ich bin froh, im Nachstieg die Seillänge halbwegs geniessen zu dürfen.

Die dritte Seillänge, ein Akt im Grad 6b, vom ersten bis zum letzten Meter an messerscharfem Fels, wie ich ihn liebe. Voll mein Ding! Ich schwärme beim Klettern. Doch Zeit machen wir hier trotzdem keine gut, viel zu diffizil und bis die Finger jeweils einsortiert sind...das dauert. Zum Schluss hin macht die Route einen Rechtsbogen, frühzeitig auf die Seilführung achten, damit man zum Stand hin nicht vom eigenen Seil zu Tale gezogen wird ;-). Der Stand dann recht luftig auf einer phänomenal tollen Schicht aus braunen Konkretionen. Einfach nur genial! Überhaupt, in diesem Wandabschnitt ist der Fels kompakt und rauh in alle Himmelsrichtungen, ein Festmahl für das Auge, das jedes Kletterherz höher schlagen lässt. Ich bin jedenfalls am fotografieren ohne Ende. Diese Struktur noch, dort drüben der Pfeiler, da die Tropflöcher, ...so muss Kalkfels aussehen! 

Vom Stand weg quert die vierte Seillänge zunächst entlang einer Steilplatte, die für die Füsse mit grossen Konkretionen aufwartet. Eine extrem charakteristische Stelle mit Wiedererkennungswert! Umgeben von einem Meer aus Platten, Rillen, Schüppchen, Tropflöchern und sonstigen rauchen Strukturen. Wer es bis hier her noch immer nicht gelernt hat den Füssen zu vertrauen, wird es vermutlich auch nicht mehr. Mehr Reibung, mehr Grip gibt es nicht!

Von der zweiten Crux-Seillänge gibt es keine Fotos von mir beim Kampf. Bin ich bis hierher noch im onsight- bzw. flash-Modus geklettert, muss ich hier leider kapitulieren. Bereits der Start vom Adlerhorst weg gestaltet sich schon spannend, danach folgen unaufhaltsam technische Moves, die allesamt so unsicher sind, dass ich jeden Moment herauskippen könnte. Irgendwann warf ich die Nerven weg, nachdem ich keine Lösung fand, hängte mit aller Kraft den Bolt ein und griff in die Schlinge. Saft raus, Kopf leer. Pause gefällig. Die Zehenspitzen taub, zu lange bin ich in einer blöden Position verharrt.

Danach ändert das Gestein ein wenig, erste Ansätze dieses sandsteinartigen (wie im Raum Interlaken der Hohgantsandstein) Fels, der den oberen Teil mit einem mächtigen Band die Wand durchzieht, macht sich breit. Der Ausstieg entlang von runden Wasserrillen, schon noch toll!

Geschafft. Zumindest was die Schwierigkeiten angeht. Doch noch stehen uns zwei Abschluss-Seillängen bevor. Wie hoffen keinen "Sandbag" anzutreffen...

Die Route bleibt noch anspruchsvoll, auch die 6a und die 5c Längen wollen sauber geklettert werden. Die letzte Seillänge verläuft über den Sandsteinriegel, leider mit uralten Haken. Warum diese Länge nicht saniert wurde? Who knows....Ultraplatt, aber mit einem zufriedenen Lächeln klatschen wir uns ab. Das war nicht nur grandios, das war eine der besten Routen seit langem! 

 

Die Abseilerei verlief zum Glück problemlos, keiner von uns hätte noch Kraft gehabt, eine der Seillängen noch einmal hochklettern zu können. Dazu ist das momentane Kletterniveau einfach nicht hoch genug, die Athletik fehlt komplett. Letztenendes bin ich die Tour mehr mit Erfahrung und einem ruhigen Kopf geklettert, als mit Power und einem dicken Bizeps. Das war einmal, vor langer Zeit. Aber es liess mich heute daran erinnern, wie es damals war, als wir (Hari und ich) unseren alpinen Sportklettereien in den Dolomiten und allgemein in den Alpen Seillänge um Seillänge abrungen. Da wurde gefightet, gezittert, gekämpft und nicht nur einmal mussten wir über uns hinaus wachsen. So ähnlich fühlte es sich auch heute an, eine grosse Genugtuung breitet sich aus. Ein Erlebnis, das lange im Kopf verweilen wird. 

 

Und ob da nun ein Onsight, ein roter Punkt oder einfach nur ein "af" hinter der Begehung steht. Die ambitionierten Zeiten sind vorbei. Was bleibt, ist die Freude an der Kletterbewegung an sich, die Freude, wenn Passagen intuitiv richtig geklettert werden, wenn sich alles auflöst, man den richtigen Riecher gehabt hat. Das fühlt sich gut an, das macht Laune. Es ist auch das Spiel mit einem kalkulierbaren Risiko. Ich stürze ja nicht gerade in den Tot bei dieser Tour, doch gewisse Stellen wollen sicher ohne Sturz gemeistert werden, sonst wird es hässlich. Und diese Passagen muss man abschätzen können, sein Können korrekt einordnen und die Kletterabfolge situativ richtig einschätzen können. Von wo hänge ich den nächsten Bolt ein? Was ist mein Plan B, falls meine Einschätzung sich als Fehler erweist? 

 

Schön ist, wenn es nach wie vor Routen gibt, die ihren ursprünglichen Charakter behalten, auch nach einer Sanierung. Am Vortag war ich Plaisirklettern, reinster Genuss, der Hakenleiter hinterher. Heute alpines Sportklettern, wo der Kopf und die Erfahrung den Takt angeben. Zumindest in meinem Niveau. Ich liebe beides. Beides hat seine Berechtigung. Beides erfüllt mich mit Freude. 

 

Fäcts: 

 

Douce Violence, les Montons am Sanetschpass

  • 7 Seillängen, 6c (6a+ obl.) (auf den meisten Internetseiten liest man 6b+ als obligatorischer Schwierigkeitsgrad, dem kann ich nur beipflichten!)
  • 1986 Remy-Brüder, saniert 2001
  • (Luftiges) Abseilen über die Route mit 2x60m (L6+L7, L5, L4+L3, L2+L1)

Seilbahn Sanetsch: 18CHF mit GA/Halbtax (retour), fährt bis Mitte Oktober täglich von 8:30Uhr bis 17:00Uhr

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschaftlerin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

Online-Autorin SAC Tourenportal

Autorin Trailrunning Guidebook

 

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