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Morgenberghorn - Schwalmere - Dreispitz - First

Eigentlich gebe ich nichts auf Geburtstage. Doch zu meinem Vierzigsten zeichnete sich eine perfekte Herbstidylle ab, eine Schönwetterphase mit milden Temperaturen selbst in grossen Höhen und dazu fiel der 29.10. auf ein Wochenende. Diesmal wird gefeiert und zwar richtig! An Ideen mangelt es mir praktisch nie. Trotzdem stammt diese Geburi-Tour-Idee von Matic und nur indirekt von mir, da ich alle Einzelteile bereits kannte. Doch sie zusammenzuhängen wäre mir nie in den Sinn gekommen: zu lang, zu erdrückend, zu mächtig. Als Team werden wir das Projekt angehen, den Zeitplan habe ich minutiös durchdacht. Eine Herausforderung, deren Crux mehr in der Länge als in der Schwierigkeit für mich persönlich liegt. Die letzten 5 Jahre war ich jeden Sommer mit Verletzungen geplagt, so dass es mir die Freude an längeren Unternehmungen genommen hatte. Dieser Sommer war indes vielversprechender und nun am Ende der Saison stellte sich eine völlige Schmerzfreiheit ein, mit der ich fast wieder in jungendlichen Leichtsinn verfallen könnte.

 

Wir starten also um 7Uhr morgens, Dank Zeitumstellung bereits im Hellen, beim Parkplatz Schlieri im hinteren Suld. Wir, das sind Giulia, Yvonne, Andrea, Abdi, Loic, Marc, Matic und Hari. Sonja und Nicu helfen uns mit Fahrdienst, so dass wir lediglich zwei Autos oben im Schlieri parkieren müssen, eines noch unten im Suld beim Gasthof für alle Fälle, falls jemand vorzeitig vom Dreispitz abkürzen müsste. Der Aufstieg aufs Morgenberghorn über Brunni und der Abstieg zum Rengglipass sind schnell bewältigt, bevor es für die nächsten 7-8 Stunden weglos weitergehen wird. 10 Stunden habe ich veranschlagt, wenn alles klappt werden wir die Stirnlampen nicht benötigen. Andrea verlässt uns am Rengglipass, sie wird versuchen über den normalen Wanderweg (Latreje, Glütsch) am Gipfel des Schwalmere wieder auf uns zu treffen (was ihr sogar fast geglückt wäre, trotz des enormen Umwegs!). 

 

Über steile Grasmatten schreiten wir der Sonne entgegen, bevor uns der "big shadow" der Schwalmere verschlucken wird. Die Westflanke mit ihren markanten, tief zerfurchten und mit Millionen von Kubikmetern Schutt beladenen Rinnen und Grätchen beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. Eine Bastion, dunkel und furchteinflössend und doch unheimlich anziehend und faszinierend zugleich. Die Wegfindung ist die eigentliche Schlüsselpassage. Und obwohl ich die Route bereits im Sommer einmal gemacht habe, täusche ich mich. Wir verpassen eine Abzweigung. Vielleicht habe ich mich auch zu sehr von der Gruppe leiten lassen und meine Sinne ausgeschalten. Für so viele Leute gleichzeitig zu sorgen, überfordert, zumal ich nicht als Leitung der Gruppe auftrete. Einzelne Gruppenmitglieder preschen immer wieder nach vorne. Ihnen sei es vergönnt den richtigen Weg aufzufinden. Wir suchen schliesslich unseren eigenen Weg und stossen zu aller Überraschung auf die zwei roten Pfeile, die den Weiterweg durch den oberen, felsigen Teil, um wieder auf den Grat zu gelangen, anzeigen. Ich bin überzeugt, unsere heutige Spezial-Variante ist fast die bessere, als diejenige, die ich im Sommer begangen habe.

 

Froh, der Schattseite und Finsternis entronnen zu sein, geniessen wir die Sonnenstrahlen oben am Grat. Bis zum Gipfel der Schwalmere mit ihrer wundervollen Aussicht auf die Berner Hochalpen, sind es nur noch wenige Minuten. Manch einem der Gruppe steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Einige hatten nicht damit gerechnet, dass sie dem Nordwestgrat auf die Schwalmere gewachsen wären. Die Realität zeigte ein anderes Bild: souverän haben wir als Gruppe den Anstieg gemeistert. Mit vollem Elan und dem Panorama vor Füssen schreiten wir den Südwestgrat der Schwalmere hinab. Einige steilere Abbrüche umgehen wir, kürzere klettern wir ab. Wir kommen zügig voran und erreichen schon bald P.2228 nach dem Britterehöreli, wo wir über eine grasige Mittelrippe nordseitig in direkter Linie absteigen. Endlich finden wir Wasser für unsere ausgetrockneten Kehlen. Gierig kippen wir das erfrischende Nass in unsere Münder hinein. Was jetzt kommen wird, davor graut es mir seit Aufbruch am frühen Morgen: 800 steile Höhenmeter in Vertikalmanier zum Dreispitz über dessen Südflanke hinauf!

 

Das schöne allerdings ist, dass ich Begleitung habe. Den anderen schwebt selbiges durch ihre Hirnwindungen. Gemeinsam schaffen wir das, Schritt für Schritt. Wir drei Frauen beginnen ein gutes Gespräch, diskutieren, philosophieren und stehen plötzlich eine Stunde später verdutzt oben am Gipfelkreuz des Dreispitz. Unsere männlichen Begleiter feuern uns das letzte Stück an, sie geniessen bereits die herrlichen Ausblicke in der bereits tiefstehenden Nachmittagssonne. Die Atmosphäre ist entspannt, wohlwollend und von richtig guten Vibes durchzogen. Bis hier hin haben wir es alle geschafft! Und auch das letzte Stück werden wir gemeinsam absolvieren, das steht fest! Der Übergang zum Latrejespitz weist unangenehm brüchige Meter auf, die die technische Crux der gesamten Route darstellen. Doch wer es bis hierhin geschafft hat, wird auch dieses Stück meistern. Mit Konzentration und Bedacht, den Felsen nur spärlich anzupacken, setzen wir die Reise fort. Das morsche Seil, welches mehr zur psychisch-moralischen Unterstützung dienlich ist, im Griff; die Füsse exakt platzierend. Anweisungen folgend, der Reitergrat stellt manch einen vor die Prüfung. 30m, die es in sich haben.

 

Danach fällt die Anspannung ab, der Weg ist frei, wir haben es geschafft! Gemeinsam, ohne Verlust, sogar mit Bravour und im Zeitfenster, das ich gesteckt hatte. Die dünnen Wegspuren hinüber zum First über den grasigen Grat rennen wir beflügelt und mit Leichtigkeit, die Sonne befindet sich beim Untergehen, pastellfarben zeichnet sich der Horizont im Westen ab. Es sind diese Momente, die für immer im Herzen, im Hirn, in allen Körperzellen abgespeichert werden. Unvergessliche Momente des Glücks, der Kraft, die eine harmonische Gemeinschaft erzeugen kann. Stärker, viel stärker als man selbst je sein könnte...

 

Nach 10 Stunden treffen wir beim Auto im Schlieri ein, Nicu und Sonja empfangen uns. Wir strecken die Arme nach oben, jubeln wie bei einem Zieleinlauf. Es ist unser Zieleinlauf! Mein Projekt, das nur durch die Hilfe aller zur Realität werden konnte. Unmögliches wurde möglich. Nicht nur für mich, auch für einige andere, die gezweifelt hatten...

 

Zurück bei Giulia fallen wir über die Reste der gestrigen Geburtstagsparty her, wie die Tiere. Ausgehungert stopfen wir ohne Erbarmen alles in uns hinein, was wir greifen können. Fütterung der Raubtiere! 

 

 

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschaftlerin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

Online-Autorin SAC Tourenportal

Autorin Trailrunning Guidebook

 

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