Prolog
Ist Bergsteigen nicht auch so ähnlich wie Wissenschaft? Betrachten wir diese Aussage etwas genauer: Eine Fragestellung weckt wissenschaftliches Interesse. Mit Neugier und reichlich Überlegung, mit Recherche und Einbettung in den Kontext wird die Problemstellung klar definiert. Danach beginnt die Arbeit, Messungen, Erhebungen, das volle Spektrum des Handwerks. Anschliessend die Analyse, Ergebnisse werden ausgewertet und interpretiert, was wiederum die nächste Fragestellung aufwirft. Ein unendlicher Kreislauf, der immer mehr auf die Spitze getrieben werden kann, um der Wahrheitsfindung möglichst nahe zu kommen.
Im Alpinismus ergibt sich gleicher Ablauf: Eine Wand, ein Objekt der Begierde, wirft eine Fragestellung auf. Wurde die Linie schon begangen? Recherchen beginnen. Aber auch Recherchen, in wie fern das Projekt realisiert werden kann. Die Rahmenbedingungen müssen definiert werden. Danach beginnt das Adventure, das nicht unreflektiert bleibt. Aus ihm und je nach Ausgang entstehen neue Visionen, neue Linien und Fragestellungen. Das eine bedingt das andere. Neu erworbene Fähigkeiten und Erfahrungen ermöglichen visionärere Problemstellungen. Das ganze kann auf die Spitze getrieben werden und doch wird man nie das Ende der Fahnenstange erreichen...
die Headwall
Eine solche Fragestellung, die unser Interesse zunehmends erregte, ergab sich aus der Tour vor einer Woche, als wir zum ersten Mal, auf dem in unseren Augen einfachsten Weg durch die zentrale Rinne, die Niesen Nordseite durchstiegen. Ein Graben (auf der LK mit Stei Chenelgrabe bezeichnet), sowie dieser abweisende, steile Gipfelaufbau des Niesen, erweckte Abenteuergelüste, die befriedigt werden wollten. Die Linie dazu war schnell ausgemacht, doch das Fragezeichen, ob sie für uns möglich sein würde, blieb bis zum 09.02. erhalten. Obwohl ich mit dem Spektiv sämtliche Möglichkeiten äusserst genau studierte, Fotos an unterschiedlichen Tagen und Uhrzeiten machte, um die Verhältnisse zu beobachten, konnten wir bis zum Schluss nicht hundertprozentig wissen, was wir zu erwarten haben würden. Aber genau dies macht den Reiz doch aus: ins Unbekannte aufbrechen, die erworbenen Skills einsetzen, die Erfahrung walten lassen, improvisieren und letztendlich gemeinsam Entscheidungen treffen. Dass uns die direkte Linie zum Gipfel und auch die Fortsetzung der logischen Linie durch den Stei Chenelgrabe nach oben zum Wanderweg am Südostrücken des Niesen verwehrt bleiben würde, wussten wir zum Zeitpunkt unseres Aufbruchs natürlich nicht.
die Route
Den Steig bis zur Lichtung, auf der die Obere Hütte steht, kannten wir ja bereits von der Tour vor einer Woche. Wir entschieden uns daher etwas später aufzubrechen, so dass wir ohne Stirnlampe loslaufen konnten. Bereits auf 1080m, wo wir den Graben betreten, müssen wir leicht von der geplanten Route abweichen. Das eigentliche Couloir (rechts) führt noch Wasser, die Eisstufen sind nicht hinlänglich zugefroren. Wir nehmen daher das linke Couloir und queren an geeigneter Stelle nach rechts hinaus auf dessen Damm, der uns ohne grosse Schwierigkeiten zum Einstieg der Route führt. Eine schöne Eisstufe leitet höher, gefolgt von Schneegestapfe. Der Schnee ist aber grossteils tragend, Pickel und Steigeisen zischen beim Einschlagen. Das Prunkstück der Route folgt sogleich: ein wunderschöner Eisfall, der sich nach oben hin immer mehr verjüngt und in einer, von hohen Felswänden gesäumten Schlucht, schliesslich in ein Schneefeld übergeht. Hier fanden wir sogar am Ende auf der linken Seite einen rostigen, uralten Kettenstand vor. Von wem dieser wohl stammt und aus welcher Zeit?
Nachfolgend wechseln immer wieder kleinere Eisstufen, teilweise auch mixed, mit viel Schneegestapfe. Eine gute Kondition macht sich also bezahlt oder man bringt ein Ausdauerviech mit, wie Hari, er spurt wie eine Maschine durch den teilweise knietief einbrechenden Schnee. An einer Verzweigung wählen wir die linke der beiden Möglichkeiten, wobei auch die leichter ausschauende linke Variante für uns eine Kopfnuss parat hält. Der Ausstieg steilt sich ganz schön auf und erfordert Klettern in delikatem Mixedgelände. Auch wenn es sich nur um 3-5m handelt, doch wer möchte schon einen Abgang mit Pickel und Steigeisen machen? Eine Schneerampe leitet nach rechts ins Schneecouloir, welches uns, hinweg über weitere coole Eisstufen und Mixedpassagen, zur Headwall bringt.
Es folgt das grande Finale. Eine Bastion baut sich über unseren Köpfen auf, wir sind mittlerweile auch schon wieder aus der Sonne in die Düsternis der Niesen Nordseite eingetaucht. Das Ambiente ist bedrückend, aber es zieht uns neugierig an. Was bereits durch das Spektiv ein Fragezeichen aufwurf, türmt sich nun in der Realität vor uns auf. Eine Barriere aus brüchigem und doch geschlossenem Fels, der sich nicht absichern lässt. Dazu überhängend. An seinem rechten und linken Ufer jeweils gestuftes Mixedgelände, das zwar im entferntesten Sinne machbar aussieht, beim Näherkommen und ersten, vorsichtigen Versuchen, sich dann aber doch als eine Nummer zu hoch präsentiert. Wir packen das Seil aus, 2x30m Halbseil, dazu die Schlosserei. Die Stunde der Wahrheit, nun wird sich zeigen, ob wir zu hoch gepokert hatten?
Matic, unsere Ropegun, bindet sich ins scharfe Ende ein. Ein Ausgleich aus zwei mittelprächtigen Camalots in einer Felsritze bietet sich als einzige, nicht wirklich zuverlässige Sicherung an. Doch die Stelle lässt sich auch für Matic, nach mehrmaligen Ansätzen, Varianten, Hooks und Finessen nicht überwinden. Zu riskant einen Move zu machen, ohne zu wissen, was danach kommen wird: gibt es eine zuverlässige Sicherungsmöglichkeit? Kann ich das Gelände wieder abklettern? Welche Schwierigkeiten erwarten uns noch danach? Ist ein Rückzug dann überhaupt noch möglich? Alles Fragen, die in der Kürze der Zeit mit Nein beantwortet werden mussten. Das Resultat er Überlegungen lag somit glasklar auf der Hand: Rückzug und Kneifervariante über das breite Schneefeld unterhalb der Headwall zum Nordgrat, den wir bereits von unserer ersten Route kannten.
Nachspiel
Die drei Musketiere. So oder so ähnlich setzte sich unser Team zusammen. Hari, die Ausdauermaschine, die selbst durch den tiefsten Schnee fräst, als sei es mäuseknietief. Matic, der Alpinhaudegen, den wir mit seinem ehemals hohen Kletterniveau als Joker für die schwierigsten Stellen einplanten. Patricia, also meine Wenigkeit, die Expeditionsleiterin, die wie eine Fürstin in unserem heroischen Eroberungsalpinismus von ihren Männern empor begleitet wurde und den Takt dirigierte. Ein gutes Team, in dem jeder seinen Platz inne hat. Stärken und Schwächen ergänzen sich zu einem grossen Ganzen, das viel kompetenter und stärker ist in Summe, als seine einzelnen Komponenten.
Ein Schönheitsfehler, in der ansonsten vom Ambiente und den Kletterstellen her fantastischen Route, ist das abrupte Ende unterhalb der Gipfelbastion. Die pfeilgerade Route wäre ein heisser Kandidat für eine Direttissima gewesen. Mangels unserer Fähigkeiten und des geringen Risikoappetits querten wir hinaus zum Nordgrat. Der direkte Gipfelausstieg bleibt somit für Anwärter noch offen. Und ist es nicht so, dass Träume und Visionen auf dem Nährboden von Erfahrung, Fähigkeiten, Freundschaft, Selbstvertrauen und dem Reiz am Unbekannten wachsen? Vordenken, versuchen, scheitern. Entwickeln, machen, gewinnen. Der Kreislauf dreht sich weiter, die Karten werden neu gemischt. Die Problemstellung Niesen Nordseite nimmt Struktur an.
Und was wäre ein gemeinsames Abenteuer ohne ein fürstliches Festmahl für hungrige Mäuler? Chefkoch Matic versuchte sich an einer Neuschöpfung seines bewährten Pasta-Speiseplans. Kreative Routen erfordern kreative Menü-Pläne, oder etwa nicht? Hier und dort besteht Entwicklungspotenzial, der Auftakt ist jedenfalls gemacht.
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Rupeste Rendich (Donnerstag, 16 März 2023 15:17)
Sau Cool! Danke für den schönen Bericht von dir!
Cia und Grüße aus Mittenwald!