Von der grossen Scheidegg aus gesehen erhebt sich der Mittellegigrat als riesige Haifischflosse und zerschneidet zur linken den Challifirn, zur rechten tief abfallend bis in den Talgrund von Grindelwald das prägende Gesamtbild des Eigers. Eine Kingline, besonders, wenn der untere Teil des Mittellegi, über die Hörnli mitbegangen wird. Dieses Projekt musste lange gedeihen, um ehrlich zu sein. Das "Wie" spielte hier den entscheidenden Faktor. Nur Machen und Murksen war mir zu wenig. In diesem Sommer, der immer wieder mit Wetterkapriolen und Wintereinbrüchen im Hochgebirge nur kurze Zeitfenster für ein Projekt übrig hatte, schien sich mit viel Optimismus ein 4-Tages-Zeitfenster zu öffnen, welches für 2 Touren grösseren Kalibers angemessen erschien. Den Auftakt machte unsere Zinalrothornüberschreitung von Zinal nach Zermatt, den Abschluss sollte die Eiger Traverse bilden, mit zwei Tagen zum Regenerieren dazwischen müssten wir allerdings Auslangen finden.
Im Vorfeld der Abklärungen und Auseinandersetzung mit der Tour wurde nach und nach klar, dass es bei den jetzigen Bedingungen zu gewagt wäre, nur mit Trailrunningschuhen und Microcrampons loszuziehen. Dies wäre der Idealzustand gewesen, mit richtig leichtem Gepäck und vielleicht sogar vom Tal aus. Wir aber entschieden uns für eine Strategie, die eine Übernachtung auf der wunderschön gelegenen Ostegg Hütte vorsah, meine geliebten Inov-8 + Bergschuhe + Kletterschuhe für mich als Schuhwerk, wohingegen Hari nur mit Bergschuhen für die Gesamtüberschreitung ausgestattet werden würde und zusätzlich meine Bergschuhe und das Seil tragen müsste. Sherpa-Job. Aber in ungleichen Seilschaften müssen komplementäre Fähigkeiten und Eigenschaften geschickt kombiniert werden um das Optimum herauszuholen.
Ein Anruf bei Grindelwaldsports zur Reservierung der Ostegghütte brachte erste Zweifel hervor. Die Hütte sei eigentlich ziemlich voll belegt. Nun gut, es galt unsere Strategie nochmals zu überarbeiten und einen idealen Zeitplan aufzustellen. Unangenehme Passagen bei mehreren Seilschaften sind definitiv der erste Anstieg von der Hütte bis hoch zum Grat (wegen Steinschlag), sowie die zwei Seillängen nach dem Hick (Schlüsselstelle). Die Überraschung war daher umso grösser, als wir im warmen Nachmittagslicht verschwitzt bei der verschlossenen Ostegghütte ankamen. Kein Mensch, weit und breit. Noch wollten wir unsere Euphorie in Zaum halten, es wäre nicht das erste Mal, dass zu später Stunde noch ein paar glustige Gestalten erschöpft die Tür hereinfallen. Mit einem Radler und einer Butterbretzel in der Hand sitzen wir glückselig auf der Bank vor der Hütte, während sich um uns herum allmählich die Quellwolken zurückbilden und die Schönheit der Umgebung freigeben. Dieser Platz dort oben, unbeschreiblich. Ihn in dieser Ruhe und Friedlichkeit erleben zu dürfen, unbezahlbar. Allein für diese Bergromantik hat sich das Aufbrechen bereits bezahlt gemacht. Ich hoffe sehr, dass die kleine Hütte weiterhin von allen Besuchern so pfleglich umsorgt und behandelt wird, ein Bijou auf einem Adlerhorst, bevor die schroffe und leblose Steinwüste des Eigers betreten wird. Ein Ort zum Wohlfühlen, zum Energie tanken und um alles Weltliche hinter sich zu lassen. Wenn du in der Nacht vor lauter Stille die Bewegung deines Brustkorbes beim Atmen hörst, dann weisst du, dass die Zeichen der Zivilisation weit unter dir liegen...
Nachdem wir also eine friedliche Nacht erleben durften, starten wir erst im Morgengrauen mit unseren Stirnlampen. Es ist 5:41h, warm und still. Die Motivation ist enorm, keine Spur von Müdigkeit und der mit Steinmännern grossartig markierte Steig führt uns ohne gröbere Schwierigkeiten zum Grat hinauf. In völliger Nachtatmosphäre dürfte dies anspruchsvoller sein, es gilt doch ein paar steile Aufschwünge zu erklettern und nicht die brüchigen, vermeintlichen Abkürzungen zu wählen. Ein unglaublich weiches Licht begleitet uns an diesem fantastischen Morgen auf dem Weg zur Mittellegihütte. Es flowt, wir finden jeweils zügig den richtigen Weg, kriechen durch das markante Loch, erfreuen uns an der originellen Linie. Und der Fels ist weniger brüchig, als wir erwartet hatten. Ins Hick lassen wir uns am Seil ab, danach wechsle ich auf die Lowperformer-Kletterschuhe, bestücke mich mit ausreichend Express und binde mich ins Seil. Die beiden Kletter-Seillängen, vor denen ich mich jahrelang gedrückt hatte, lösen sich in Wohlwollen auf. Fester Fels, schon etwas poliert, aber gut mit Bolts gesichert. Ich kann sogar alle Passagen frei klettern, die Sonne erwärmt bereits nach drei, vier Metern den Fels. Perfektes Timing.
Wechsel zurück auf Trailrunningschuhe, wir verpacken das Seil und erkraxeln den nächsten Aufschwung, bevor "Hosentaschengelände" mit kurzen Klettereinheiten zur Mittellegihütte führt. Ein Laufsteg, um die wahnsinnig tolle Landschaft zu bestaunen und gleichzeitig Meter zu machen. Nach gut 3h50' erreichen wir bereits die kleine Mittellegihütte und gönnen uns eine Verschnaufpause mit Cola und für mich dem Schuhwechsel auf die Bergschuhe. Ein Bergführer mit seiner Kundin sitzt ebenfalls bei Kaffee und Kuchen und geniesst die Sonne und angenehm friedliche Atmosphäre. Die Mittellegischneide erhebt sich über unseren Köpfen, der Eiger Gipfel scheint in greifbarer Nähe zu sein. Doch die Optik täuscht, die Distanz ist weiter als der Schein trügerisch vorgibt. Kräfteraubende Fixseilpassagen wechseln mit hübschen Kletterstellen, der Mittellegigrat macht Spass und bietet soliden, abgekletterten Fels. An einer Stelle packen wir nochmals das Seil aus, der exponierte Aufschwung erfordert ein paar beherzte, eher kleintrittige Züge bei gleichzeitig ziemlich viel Luft unterm Hintern. Unter uns das knacksende Ischmeer und die geschichtsträchtige Nordwand. Selbst für die letzten Meter zum Gipfel benötigen wir die Steigeisen nicht und können unser gleichmässiges Tempo durchziehen. 5h50' seit Aufbruch an der Ostegghütte. Wow, ich bin beeindruckt, wie flüssig und leichtfüssig dieser Anstieg war. Nach dem Staustehen am Zinalrothorn vor 3 Tagen diesmal freie Fahrt. Das perfekt eingespielte Team durfte seine Stärken voll und ganz ausspielen, ein Flowerlebnis, wie ich es bisher noch kaum erleben durfte.
Auf dem Abstieg über die Eigerjöcher stossen wir dann auf die letzten Seilschaften, welche von der Mittellegihütte aufgebrochen sind. Trotzdem können wir uns mit Abklettern und anfänglichen, kurzen Abseilern gut an ihnen vorbei mogeln. Die Eigerjöcher ziehen sich, es geht auf und ab, für 20m müssen wir doch noch die Steigeisen auspacken, dann wieder fantastischer Kletterfels und eine originelle Stelle durch einen tiefen Spalt. Platzangst darf man hier jedenfalls nicht
haben, der Körper fungiert als menschlicher Klemmkeil. Schliesslich sind die letzten Schwierigkeiten hinter uns, der Firn des südlichen Eigerjochs noch halbwegs hart, so dass wir weiterhin zügig mit unserem Projekt fortfahren können. Ein letzter Schluck und Riegel vor dem Gegenanstieg ins Obers Mönchjoch, mit kurzen, gleichmässigen Schritten liegt auch diese Passage bald hinter uns und wir tauchen kurz darauf in die Parallelwelt des Jungfraujochs ein. Die Zivilisation hat uns nach 8h43' wieder.
Was bleibt ist ein Highlight für die persönlichen Geschichtsbücher, eine Tour, die aufgrund ihrer Nähe zum Wohnort und dem Mythos Eiger eine besondere, ganz persönliche Note erhält. Innerlich zwar stolz auf die benötigte Zeit, die letztenendes aber völlig nebensächlich ist. Bleibend in Erinnerung das Gefühl, welches uns während des gesamten Projekts begleitet hat. Ein Hochgefühl, welches sich nur unter besonderen Umständen einstellt. Welches nur in einer besonderen Konstellation auftritt, einem Zustand voller Harmonie, Überlegenheit bzgl. Anforderungen und körperlicher und mentaler, ausgezeichneter Verfassung. Danke Hari für diesen herausragenden, gemeinsamen Tag im geliebten Berner Oberland.
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