Manche Projekte müssen ewig gedeihen. Die Himmelsleiter aus Granit im wunderschönen Bergell sollte 20 Jahre in meinem Kopf schlummern und heranwachsen, bevor ich auf ihr empor steigen durfte. Der Pizzo Badile mit seinem Spigolo Nord ist weit über die Grenzen hinaus bekannt, berühmt für seine hervorragende Felsqualität und Eleganz. Dementsprechend hoch frequentiert präsentiert sich die Genusskletterei an der Grenze zu Italien. Vielleicht war auch dies mit ein Grund, warum diese Route lange nicht Priorität auf unserer Wunschliste genoss. Stauende Seilschaften schrecken mich ab. Dazu noch der lange Abstieg bzw. komplizierte Rückweg über die steilen, verblockten Pässe, möchte man nicht 200CHF für das Taxi im Val Masino blechen, welches einen zurück nach Bondo fährt.
Dann kam per Zufall die zündende Idee. Um ehrlich zu sein, nicht unsere eigene, mehr copy/paste, aber das spielt in diesem Kontext keine Rolle. Saro Costa rannte diesen Sommer in unglaublichen 4:27h von Bondo über die Nordkante nach San Martino. Inspiration für uns die edelste aller Kanten im Seilschaftsspeedmodus anzugehen, was uns ermöglichen würde, nicht nur azyklisch unterwegs sein zu können, sondern auch die Tour mit entspannter öV-Reise von zuhause aus in ein Wochenende zu packen.
Kurze Kalkulation, Check der Bus- und Zugverbindungen, Konsultation diverser booking-Seiten um eine Bleibe in Chiavenna und San Martino zu finden. Gesagt, getan, die Mission war fixiert: in einem Push von Bondo über die Nordkante als Seilschaft und Abstieg bis nach San Martino. Sozusagen eine Schmugglerreise von der Schweiz nach Italien. Dazu am Vortag Anreise über Lugano mit dem Panoramaexpress (reservierungspflichtig) nach Chiavenna und Rückreise nach einer erholsamen Hotelnacht in San Martino mit der rhätischen Bahn über den Berninapass. Die Kletterei wurde somit von einem Sightseeing-Paket umrahmt. Super, oder?
Dass die Reise mit dem GA komplett abgedeckt ist, hatte ich bisher nie auf dem Radar. Umso interessanter in Kombination mit der schnellen Begehung, weil wir natürlich ohne Gepäck reisen konnten. Mein kleiner 15l Rucksack für 3 Tage musste reichen, auf den Zentimeter genau gepackt. Hari, als Sherpa mit Kletterseil und Express, konnte natürlich nicht auf ein Minimum reduzieren, doch auch er schaffte es, sein Hab und Gut in einem üblichen, handlichen Bergrucksack zu verstauen. So macht das Reisen Freude, federleicht mit freien Händen.
In Chiavenna genossen wir das italienische Flair und fanden eine exzellente Pizzeria, hausgemachtes Gelati und natürlich die typisch italienischen Brioche mit diversen Füllungen, welche uns Kraft und ausreichend Energie am nächsten Morgen für die bevorstehende Klettertour gaben. Im Stundentakt fährt ein Bus von Chiavenna nach Bondo, wir entschieden uns für den um 8 am Morgen, so dass wir um kurz nach halb neun in Bondo starten konnten. Eine angenehme Zeit, mit noch Schatten im Tal und frischen Temperaturen.
Der schnellste Weg ist und bleibt der alte Hüttenweg, auch wenn er offiziell nicht mehr unterhalten wird seit dem Bergsturz. Doch er ist nach wie vor gut ausgetreten und die Vermutung liegt nahe, dass die meisten Bergsteiger und Kletterer diesen wählen, weil der neue Weg zwar eine hübsche Wanderung darstellt, aber doch lang und umständlich zu begehen ist. Für den Kletterer ist ja nicht der (Hütten)Weg das Ziel, sondern die Kletterei. Wir kalibrieren im kleinen Bondo beim Brunnen unsere Uhr, ein letzter Check und los gehts im Schweinsgalopp. Zunächst dem Wanderweg folgend, später dem Bachbett entlang und bei den letzten Hütten über einen schmalen Pfad durch die Wiesen und in den steilen Wald hinein, wo der alte Hüttenweg wieder ersichtlich ist. Bereits nach 1h25 erreichen wir schweissgebadet die Sasc Furä Hütte, wo das Hüttenteam gerade eine Pause einlegt und mit dem Fernglas die Spigolo-Anwärter beobachtet. Ein kurzer Austausch mit ihnen, wir füllen Wasser am Brunnen auf und spurten weiter über den mit blau-weissen Markierungen gekennzeichneten Weg zum Viäl hinauf. Eine wunderbare Landschaft breitet sich vor unseren Augen aus, durch Lichte Lärchen lugt der Badile durch, glatte Felsplatten und softes Gras, umgeben von einem Kessel aus Granitriesen.
Der Weg zum Einstieg lässt sich eigentlich nicht verfehlen, unzählige Steinmännchen leiten durch Blockfelder und später über den zunehmend steiler werdenden Vorbau hinauf. Hier dürfen einige Male bereits die Hände aus dem Hosensack genommen werden. Am Anseilplatz machen wir uns parat für unsere Mission, wir tauschen die Trailrunner gegen Kletterschuhe, das Seil wickle ich mir in Schlaufen um Hals und Körper, um es parat zu haben, sobald die Kletterei so richtig beginnt. Und siehe da, kurz bevor es in einer Querung auf die Kante geht, wird es trittarm. Wir seilen an, aber klettern durchwegs gleichzeitig, bis das Material ausgeht und einen Wechsel des Vorsteigers erfordert. So passieren wir Stand um Stand, das Mitzählen der Seillängen hat sich unterdessen verselbstständigt. Wir folgen unserer Intuition, die wichtigsten Passagen des Topos im Kopf. Jeder Meter Kletterei begeistert, der Fels ist bombenfest, meist plattig und doch griffig. In Summe gestaltet sich die Kletterei als wenig kräftezehrend, die Hauptarbeit verrichten die Füsse. Ein eleganter Tanz über einen rauhen Granitpanzer.
Die erste der hinteren Seilschaften können wir bereits in der Hälfte überholen, eine weitere dann nach der Schlüsselseillänge und eine weitere dann oben am flachen Grat vor dem Gipfel. Ich kann es kaum glauben, dass wir nach 5:10h seit unserem Aufbruch in Bondo am Gipfel einschlagen. Wow, das ging aber flüssig und trotzdem so genussreich! Einfach konstant! Wir gönnen uns eine Mini-Pause. Schuhwechsel, einen Riegel reinquetschen, Gipfelpanorama bestaunen, Seil aufnehmen, überflüssiges Material verstauen. Und weiter geht die Reise, nun auf italienischem Boden. Da wir den Normalweg als Abstieg benutzen, müssen wir auch nicht an der Abseilpiste anstehen. Über Bänder, kurze Platten und Abkletterstellen kommen wir zügig zum Wandfuss. Einmal zücken wir doch noch das Seil zum abseilen, unser eigeschlagener Weg war etwas zu direkt gewählt um das darunter liegende Band zu erreichen.
Im Blockfeld am Wandfuss dann Erleichterung, wir waren uns im Vorfeld nicht sicher, wie gut der Abstieg mit unserem 40m Seil funktionieren würde. Dass wir bei richtiger Routenwahl sogar ohne Seil durchgekommen wären, überraschte uns dann doch. Daher noch spannend, dass fast alle Seilschaften über die Abseilpiste für 60m Halbseile abseilen und viel Zeit verlieren...Weg mit dem Gurt, der ganzen Ausrüstung und dem Seil, Haris Rucksack nimmt Form an und drückt ab jetzt im Downhill nach San Martino, der alles andere als genüsslich ist, auf die Schultern. Der Wanderweg entpuppt sich nämlich als das Gegenteil eines Flowtrails. Ein Gehüpfe von Stein zu Stein und unendlich vielen Stufen. Auf die Zähne beissen, durchziehen. Dieses Projekt ziehen wir nun durch. Auch die restlichen Kilometer über Asphalt halten uns nicht mehr davon ab, auf die Tube zu drücken. Wir haben noch wenige Minuten um unter 8h zu bleiben. Schliesslich erreichen wir die ersten Häuser von San Martino, eine letzte Kurve und dann ist er da, der Brunnen im Zentrum, imaginäre Ziellinie.
Muskelkater an den folgenden 3 Tagen inklusive. Wie gut, durften unsere malträtierten Beine vorerst im schönen Hotelzimmer in der Horizontalen weilen. Das Abendmenü füllte reichlich und mit dem Rauschen des Bergbachs im Ohr fiel das Einschlafen an diesem Tag leicht. Dass die Rückfahrt am nächsten Morgen ein spannendes Unterfangen werden würde, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Schienenersatzverkehr, verspätete italienische Busse,...eigentlich hätten wir es ja wissen müssen, dass es in Italien nicht ganz rund läuft mit dem öffentlichen Verkehr. Wir schafften auch diese Hürde und durften schliesslich im roten Zug der rhätischen Bahn die malerische Landschaft ab Tirano bis auf St. Moritz geniessen. Der Rest über Landquart, Zürich und Bern stempelten wir als Schweizrundfahrt ab.
Infos
Hier gibts in Chiavenna süße Leckereien: Soul Cake Pasticceria
und hier super feine Pizza: Ristorante Pizzeria l'Arca
Gelati Artigianale: Gelateria Dolzino
Hotel in San Martino: Hotel Le Cime
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