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Geyikbayiri, Sportkletterurlaub in der Türkei

Bereits zum vierten Male besuchen wir den gelb-roten Felsriegel unter anatolischer Sonne, der sich etwas im Landesinneren hinter den Hotelbastionen von Antalya versteckt. Es braucht eine Weile bis der "gestresste" Mitteleuropäer das relaxte Leben im Geyikbayiri Entschleunigungscamp in vollen Zügen geniessen kann. Gut die Hälfte unseres 10-tägigen Aufenthaltes benötige ich um das Gefühl für den rauhen Felsen wiederzufinden. Mir scheint, mit jedem Tag unter der bereits zu dieser Jahreszeit starken Sonne, gelangt der Geist in einen ausgeglicheneren Zustand, das Einlassen auf die nächsten Klettermeter, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten am Felsen wächst. Entschlossenheit gepaart mit Gleichmut, die Symbiose von Mensch und Fels beginnt auch mich zu erfassen. Dieses Steady-State-Gefühl kenne ich bereits von zahllosen Mallorca-Kletterurlauben, wenn am Morgen das Aufstehen mühsam und schwerfällig von Statten geht, die malträtierten Muskeln erst erwärmt und auf Betriebstemperatur hinaufgefahren werden müssen. Doch dann am Felsen, die Maschine beginnt zu laufen, "das bin nicht ich" schiesst es mir des Öfteren nach einem gelungenen Durchstieg einer Route durch den Kopf. 

 

Klettern ist eben mehr als reine körperliche Ertüchtigung. Klettern ist intuitiv und basiert auf einem reichhaltigen Erfahrungsschatz, der sich von Jahr zu Jahr erweitert und aus dem man bei jeder Sequenz aus dem Vollen schöpfen kann. Man wird stärker, obwohl man mit zunehmendem Alter vielleicht weniger oft klettern geht. Doch die Erfahrung gleicht den mangelnden Fitnesszustand aus. Das ist einfach genial. Man muss sich nur darauf einlassen, mit diesem Gemütszustand, der nach längerem Aufenthalt in Geyikbayiri wohl jeden Kletterer erfasst.

 

Obwohl wir auch diesesmal nicht im Camp vor Ort in der Klettercommunity nächtigten und die Après-Kletterzeit verbrachten, der Spirit von Geyikbayiri ist trotzdem überall greifbar. Woraus er sich auch zusammensetzen mag, er entsteht offentsichtlich nicht in den Klettercamps, so wie oft angenommen. Sie tragen vielleicht dazu bei, aber der Ursprung muss ein anderer sein.

 

 

Wir haben diesesmal viele uns unbekannte Sektoren besucht, Küllüin, ein neu erschlossener Bereich hinter dem oberen Alabalik Restaurant (oder besser gesagt der Barrake). Hierzu eine Routenempfehlung, nicht nur wegen dem Namen: "to old to rock'n'roll, to young to die". Extrem steile Sinteraction zu Beginn mit einem Stehstart, der Klimmzugpower erfordert, gefolgt von einem delikaten Kreuzer in der Crux, Mantler und zu Schluss wunderbarer Henkelparade.

 

Trebenna, der Schattensektor, wir statteten ihm gleich dreimal Besuch ab. Der spacig anmutende Sektor, der auf Säulen gebaut ist, besticht durch eine hohe Anzahl genialer Linien. Leider sind die meisten im höheren Schwierigkeitsgrad, aber eine handvoll gemässigtere Routen sind trotzdem auszumachen. Für Liebhaber technischerer Kletterei, "Diplomarbeit" vereint Balance und Spannung mit einer obligatorisch zu kletternden Crux, super Route und Linie im rechten Wandteil. Á propos rechter Wandteil, auch hier entstehen viele neue Linien, die Schwierigkeiten sind mit Kreide angeschrieben. Wiederholer sollten viel frische Haut mitbringen:-)

Schöne Sinter beherbergt die Route "Freedom is a battle", wer viel Zangenpower mitbringt sollte "Rattlesnake Saloon" versuchen. Eine super lange Tour ist die "Matbaim" mit 42m rechts von der Superlinie "No money no dance". Interessante Bewegungsprobleme offeriert "terazi lastik jimnastik".

 

Alabalik und Alabalik Balkon, ein Felsriegel weiter unten beim Alabalik Restaurant, bieten abwechslungsreiche Kletterei für Jedermann. Alabalik mit der feinen Wiese zum Ausruhen und Zuschauen, besteht aus riessigen Konglomeraten, spassig zum Klettern und immer super zum Wegstehen der Steilheit. Viele Routen sind leider recht hart bewertet, nicht abschrecken lassen. "Brazilia Carneval" ist mega homogen, ein klassischer Ausdauerhammer mit 32m. Die "Kabil'in ucurtmalari" hingegen ist extrem undankbar zum onsighten, bereits der Start verlangt knifflige Einfingerpower und weiter oben die fetten Bäuche sind so unübersichtlich, dass ein Auschecken fasst Pflicht ist. Schöne Ausdauerrouten auch im rechten Wandteil. Die Alabalik Balkone 3 und 4 verlangen bei den genialen Linien nicht nur Ausdauer, sondern auch extrem viel Strom in den Armen und Fingern. Kleingriffige rauhe Touren sind in den vorderen Sektoren anzutreffen. Auch hier eine Empfehlung "Finger Food" mit einer Mischung aus Balance und Fingerkraft in rotem spitzen Fels.

 

 

Klettern in der Türkei ist auch immer ein Zusammentreffen der verschiedenen Kulturen. Besonders offensichtlich wurde mir dies bei unserem Zwischenstopp in Instanbul. Einer vermutlich äussert interessanten Stadt, mit viel Geschichte. Bereits die Stunde am Flughafen sitzend, stimmte mich nachdenklich. Gesichter aus allen Herrgottsländern, kantige, runde, bleiche, dunkelfarbige, gerunselte, gegärbte, verschleierte, geschminkte, gut genährte, ausgezehrte...Die Kontraste könnten nicht grösser sein. Viele konnte ich gar nicht zuordnen, ein Wuseln an Nationen und Kulturen. Und doch treffen sie friedlich hier zusammen, zumindest am Flughafen. Was sie wohl alles zu erzählen haben?

 

Es gibt viele Differenzen mit der türkischen Kultur und der unsrigen. Viele Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die für uns unverständlich sind und Gefühle der Ablehnung hervorrufen, weil mit unseren Normen und Wertvorstellungen schlichtweg nicht kompatibel. Doch wir finden auch Gemeinsamkeiten oder können uns ein Beispiel nehmen, Selbstreflexion ist hier das Stichwort. Klettern ist Reisen und Reisen ist Austausch der Kulturen, und dies wiederum regt zum Überdenken alteingesessener Traditionen und Überlieferungen an, die unsere Kultur, unser Miteinander, unsere Erziehung und damit Wert- und Normanschauungen bilden. Durch Klettern werden wir nicht bessere Menschen, aber es kann zu einer anderen Sichtweise der Dinge führen, wenn wir denn dafür offen sind.

 

Ruhe kehrt ein, wir befinden uns wieder auf nass-kaltem züricher Boden. Dicke Wolken verhängen die Aussicht auf die geliebten Berge. In der Wohnung angekommen und die Türe geschlossen, wieder Ruhe. Interessant, dass der Mensch in unserer ruhigen Gegend so gestresst wirkt und hingegen in den dicht bevölkerten Regionen Antalya's mit schlechter Bauqualität zur inneren Ruhe findet. Irgendwie paradox! Die Stille ist das erste Merkmal, dass mir bewusst wird, als wieder in den vier vertrauten Wänden angekommen. In dem riessigen Hotelbau in Konyaalti sauste der Schwerverkehr alltäglich vorbei, der selbst in der Nacht keinen Stopp machte und das Rauschen des nahen Meeres vollständig übertünschte. Im Essenssaal ein Zugang! Der Kampf um die Speisen, die reichlich und immer wieder nachgefüllt, für weitaus mehr Urlauber auslangen hätten, erhöht den Lautstärkepegel. Kindergeschrei, überhitzte Diskussionen, schallernde Räume. Der gestresste Tourist findet im Hotelareal seine "Ruhe" oder besser gesagt, glaubt sie zu finden. Draussen dasgleiche Spiel, Bauarbeiten, gehupe, Stop and Go, Reklameschilder, Menschenmassen, staubige Luft. Richtiges Urlaubsfeeling. 

 

Die abenteuerliche Fahrt nach Geyikbayiri jeden Tag über staubende Schotterpisten und holprige Strassen mit türkischem Sound aus den Fahrzeugboxen ist bereits legendär. Hier entstehen die Geschichten. Ob ins Auto laufende selbstmörderrische Hunde, Polizeikontrollen mit der englichen Sprache nicht mächtigen Polizisten, rätseln über Mülldeponieablagerungen, die keinen Sinn ergeben, dem sonntäglichen quirligen Markt in Cakirlar, wo mit Händen und Füssen die Verständigung abläuft und die Bauern mit der Waage und Gewichten einen Preis für ihre Ware ermitteln, aber nicht rechnen können, die abermaligen Stopps und Mitnahme der Kletterer oder Einheimischen, die den Bus verpasst oder zu faul zum Laufen sind und deren Geschichten, die schlechte Fahrweise der einheimischen Bevölkerung und das Rätseln für die Ursache dieser, ...hier werden Stories kreiert und Gerüchte aufgestellt!

 

Ich könnte noch ewig weiter über Geyikbayiri und meine Eindrücke, Wahrnehmungen, den Spirit, etc. sinnieren. Am besten du besuchst dieses Fleckchen Erde selbst und du wirst wissen, von was ich rede!

 

 

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschaftlerin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

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Autorin Trailrunning Guidebook

 

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