Tagträume
Ich sitze am Schreibtisch, mein Blick schweift vom 27''-Bildschirm ab nach rechts. Eine ab dem späten Vormittag völlig im Schatten liegende Flanke zieht mich magisch an. Meine Augen scannen jedes einzelne Detail: Rinnen, Gräben, Grate, Felsstufen, Eisfälle, Wald, vereinzelte Bäumchen, markante Felsvorsprünge und steile Wandabschnitte. Ich kann nicht umhin, diese Details zu einer logischen Linie zu verbinden. Einer Linie, die meine Sehnsüchte, sie irgendwann einmal zu begehen, tagtäglich aufs Neue beflammen wird. So vergehen Tage, Wochen, Monate, Jahre...
Der Niesen, unser Hausberg, zieht mich magisch in seinen Bann. Eine fast gleichschenkelige Pyramide, auf deren Nordostseite ich freien Blick von der Couch aus habe. Tag für Tag erstrahlt der steile Gipfelaufbau in einem fast gleissenden Licht, sobald die ersten Sonnenstrahlen ihn erfassen. Dann wandert die Licht-Schattengrenze kontinuierlich nach unten und zaubert harte Kontraste in die mächtige Flanke, welche vor allem im Winter bei guter Schneelage im Besonderen zur Geltung kommen. Irgendwann ist auch die einsame Alp (Oberi Hutte) in dieser düsteren Nordseite des Niesen von der Sonne erhellt. Eine Alp, die wie ein Adlerhorst als Zufluchtsort Wärme und eine strake Anziehungskraft ausstrahlt. Zu ihr leitet ein Weg, welcher ziemlich mittig ab der Strasse zwischen Mülenen und Wimmis abzweigt. Die kleine Hütte ist damit gut erreichbar und als Ausgangspunkt für alle Linien durch den zentralen Wandteil der Niesen Nordostflanke zu sehen.
Recherchen
Die SAC-Führer geben nichts her, auch die Konsultation des "worldwideweb" erzielt keine durchschlagenden, neuen Erkenntnisse. Es scheint, dass die Niesencoulis durchaus im Frühsommer von vereinzelten Einheimischen äusserst selten begangen werden, wenn die tiefen Schluchten noch mit Lawinenschnee gefüllt sind. Auf "hikr" finde ich noch einen Eintrag von einer Erkundungstour und einen weiteren, der dieses S-förmige Schlangencouloir, das auch meine Linie der Begierde darstellt, erwähnt. Die "white snake"-Linie ist am eindrücklichsten, wenn tatsächlich der ganze untere Teil des Niesen schneefrei ist und nur sein Haupt mit Schnee verziert ist. Dann hebt sich dieses Couloir perfekt von seiner Umgebung ab: eine weisse Schlange!
Soweit so gut. Die Linie steht. Doch welche Verhältnisse braucht es, damit ein Versuch erfolgsversprechend wird? Mit unserem Spektiv und 60facher Vergrösserung beobachte ich bereits den ganzen Winter das Objekt der Begierde. Schnee kommt, Schnee geht. Dann, endlich, eine vielversprechende Kälteperiode, in der kein weiterer Niederschlag fallen wird. Von Tag zu Tag bildet sich mehr Eis und bedeckt die felsigen Stufen. Mt dem blosen Auge sind die Eismassen bereits auszumachen. Bei näherer Begutachtung durch das Spektiv entschliesse ich mich am Montag, dem 30.01.2023 dazu noch vor dem nächsten Schneefall zumindest eine Erkundungstour zu starten.
auf Träume folgen Taten
Hari fällt für einen Versuch am nächsten Tag aus, berufliche Verpflichtungen können nicht verschoben werden. Doch Matic, dem ich bereits seit Wochen von meinem Niesenprojekt vorschwärme, ist direkt Feuer und Flamme. Seine Antwort auf meinen zögerlichen Vorstoss ist unmissverständlich: "Let's go!". Wir entschliessen uns etwas Backup-Material mitzunehmen, um im Falle der Fälle einen Rückzug antreten zu können, falls etwas nicht nach Plan laufen sollte oder das Risiko eines Unfalls über dem liegt, was wir bereit sind einzugehen. Ansonsten vermuten wir die Route simultan seilfrei begehen zu können.
Es ist 6:27Uhr, dunkel, Menschen in Arbeitskleidung strömen über den Bahnsteig, Hektik, der tägliche Wahnsinn eben als wir, in unseren farbenfrohen Bergsteigerklamotten eingehüllt und mit zwei Eisgeräten bewaffnet, in den Bus Richtung Frutigen einsteigen. Und erst recht ziehen wir die Blicke auf uns, als wir im Nirgendwo namens Emdthal Halt verlangen. Im Prinzip hätte ich zu Fuss über die schneebedeckten Wiesen in direkter Linie von unserer Wohnung hierher hinabsteigen können, doch ich wollte lieber unsere Tour mit einer gemeinsamen Busfahrt beginnen. Die Nacht ist klar, der Niesenstern leuchtet hell und weist den Weg. Wir stolpern hier und da über die Unebenheiten des schneebedeckten Untergrunds im Wald, der Steig zur Hütte hinauf ist bereits von wenigen Spuren ausgetreten, so dass wir schnell vorwärts kommen.
Als sich hinten der Horizont über dem Brienzer See pastellfarben zeigt und die Seenlandschaft in ein weiches Licht einfärbt, geniessen wir bereit einen heissen Schluck Tee bei der Alphütte. Es zeichnet sich schon jetzt ein grandioser Tag ab, die Temperaturen frisch, aber angenehm, es ist windstill. Fast am Ende der Wiese queren wir an geeigneter Stelle ins Couloir, der Schnee ist hier fest und wir gewinnen noch ohne Steigeisen an den Füssen rasch an Höhe. Noch bevor der erste Aufschwung kommt, treten wir uns am Rand der Rinne ein Podest zum "parat machen" für die Tour. Steigeisen, Gamaschen, Klettergurt, Eisgeräte, Helm. Es kann losgehen...
die Route
Die erste Stufe entpuppt sich als gutmütig, es gibt zwar nur wenig Eis auf dem Fels, doch der brüchige Fels ist schön gestuft und somit bieten sich ausreichend "Griff"- und Trittmöglichkeiten. Es folgt Schneegestapfe, das mit kurzen Eisstufen abwechselt. Das Höhersteigen auf diese Art und Weise bereitet richtig Freude, eine längere Passage von sicherlich 100m in diesem Schlauch aus Eis und Schnee ist besonders anregend zu klettern.
Danach auf ca. 1400m gelangen wir zu einer Verzweigung, wo wir das rechte der drei Couloirs wählen. Teilweise sinken wir im Schnee oberschenkeltief ein, wir wechseln uns daher mit der Spurarbeit immer wieder ab, wobei auf Matic's Spur-Konto der grösste Anteil geht. Slowenische Urviechpower;-). Die Eisstufen sind immer nur kurz, das Eis dick und spröde, doch mit Schneeeinlagerungen dazwischen, die gutmütig unsere Eisgeräte aufnehmen. Erst zum Abschluss der Eisreihe erreichen wir den steilsten Aufschwung, der auf 5m richtiges Eisklettern erfordert. Konzentriert und überlegt, ein Sturz möchte hier freilich niemand riskieren, erreichen wir wieder flacheres Gelände. Schneestapfen ist einmal mehr angesagt, dafür erhaschen wir erste Sonnenstrahlen. Eine Wohltat, in dem sonst eher düsteren Ambiente der Niesen Nordseite.
Bei der nächsten Verzweigung auf ca. 1630m nehmen wir die linke und gelangen allmählich höher Richtung Headwall, die sich mächtig über unseren Köpfen auftürmt. Scherzeshalber reden wir von einer fetten Drytooling-Variante durch diese überhängende, gebänderte und vermutlich grausam brüchige Wand. Um dem mühsamen Schneegewühle zu entkommen, halten wir uns an der rechten Begrenzung der Rinne und klettern entlang gefrorener Grasbüschel und etwas Mixed-Auflage. Das dumpfe "Klong" der Eishauen ist nicht gerade Sound in meinen Ohren, aber ich nehme es in Kauf. Besser Hauen im Anschluss schleifen, als tief im Schnee umherwühlen, wir haben ja doch noch etliche Höhenmeter unbekanntes Gelände vor uns und wissen nicht 100-prozentig was kommen wird, Kräfte sparen heisst die Devise. Prinzipiell liesse sich hier unterhalb dieses markanten Felsaufschwungs nach rechts in leichteres Terrain hinaus queren. Wir beschliessen aber unsere Linie, die wir uns als Wandbild bereits gezeichnet hatten, über steile Grasbüschel in einer link-rechts Traverse, um schliesslich im Nordgrat zu enden, fortzusetzen.
Die grosse Unbekannte - Nordgrat oder doch über die zentrale Rinne der Nordwand direkt zum Gipfel des Niesen - löst sich in Wohlgefallen auf. Entlang steiler Grasbüschel erreichen wir easy den Nordgrat, der zwar mit einigen grösseren, brüchigen Blöcken ein paar beherzte Schritte erfordert, aber im Grossen und Ganzen Schneestapfen mit Grasbüschelbouldern verspricht. Die Schneedecke ist hier oben sehr unregelmässig, manchmal trägt sie und ermöglicht zügiges und vor allem kraftsparendes Vorankommen. Dann wieder brechen wir mit unseren schweren Rucksäcken ein, landen im Gries und eine Fels-/Grasbüschelboulderstufe türmt sich auf, die nur mit ausgefuchsten Techniken à la mit Knieeinsatz, Klimmzug und Drüberwälzen, unelegant überwunden werden kann. Der Bunker und der Gipfelmast kommen nicht näher. Die Dimensionen täuschen hier gewaltig. Was wie ein Katzensprung aussieht, erfordert weitere 20 Minuten Schneestapfen, Wühlen, Bouldern und Fluchen.
Auf den letzten Metern...
...betreten wir endlich das "Tageslicht", die Sonne blitzt uns lichterloh in die kleinen Pupillen. Das Schattendasein hat ein Ende. Und mit ihm erreichen wir nur wenige Meter links des Geländers das Gipfelplateau. Matic wartet auf mich, er hatte für den oberen Abschnitt den Spurpart übernommen. Wir steigen über das Geländer und schreiten die letzten, wenigen Schritte gemeinsam. Unser Gipfel, unser Hausberg, unsere Route, die lange lange in meinem Kopf gediehen ist und nun endlich am letzten Tag des Januars, es ist ein Dienstag, in die Tat umgesetzt wurde. Pünktlich 12:00Uhr, Mittagszeit, und wir oben auf der Niesenpyramide. Zu unseren Füssen die Seenlandschaft, Schnee liegt noch bis in den Talboden, und im 360-Grad Panorama breitet sich diese für den Niesen typische, atemberaubende Gipfelaussicht aus. Eiger, Mönch und Jungfrau tragen eine kleine Wolkenhaube, alle anderen Berge liegen völlig frei, die Weitsicht ist endlos, kein Lüftchen weht. Ein erhabener Moment, der Traum wurde Realität. Und was für eine! Wir konnten den gesamten Anstieg seilfrei und simultan höher steigen, ohne Hast (gute 5h brauchten wir von der Abzweigung an der Strasse zum Gipfel), mit einem Dauergrinser im Gesicht. Geniessen am Niesen;-)
absteigen muss man leider auch noch
Über den Abstieg möchte ich nicht viele Worte verlieren. Wer ihn kennt, der weiss, dass er sich zieht! Und noch viel mehr, wenn wie jetzt, keine Spur vorhanden ist, die Schneequalität ständig wechselt, man zwischen Bruchharsch, der die Schienbeine aufschürft, und hüfttiefem Pulver hin und her wechselt, auf nassem Gras das Gleichgewicht verliert und den halben Abhang hinunterrutscht, immer wieder stecken bleibt, kopfüber - der Rucksack hat zu viel Gewicht - in den Schnee plumpst, sich mühsam ausgräbt und weiter torkelt. So stelle ich mir einen Abstieg auf grosser Expedition vor. Ach so, nein, wir sind ja am Niesen...gute 2 Stunden später treffen wir in Mülenen am Bahnhof ein, just in time für den heranrollenden Zug, der uns zurück nach Spiez bringt. Mittlerweile hat eine hohe Wolkenschicht die Spiezer Bucht erreicht, wir dürfen uns zufrieden und entspannt zurücklehnen, hinauf zu unserem Niesen schauen und für weitere Abenteuer vor der Haustür die nächsten Pläne schmieden. Pastaparty gab es natürlich auch noch, Pasta à la Matic: so karg und genügsam wie er selbst (;-), sorry Matic, kleiner Insider-Joke ;-)). In diesem Moment war sie jedenfalls traumhaft! Ein Festmahl für unsere knurrenden Mägen...
die zweite Wiederholung folgt sogleich
Hari liess sich die Möglichkeit einer schnellen Begehung natürlich nicht entgehen, jetzt wo er wusste, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit unsere Spuren noch vorhanden sein würden. Und nahm sich den Nachmittag am Folgetag frei. Ich fuhr ihn zu Mittag also zum Startpunkt bei P. 662 und versprach ihm, ihn in Mülenen wieder mit dem Auto freudestrahlend in Empfang zu nehmen. Seine Zeit von 2:37h ist eine wirklich starke, wenn man bedenkt, dass bereits unsere Spuren über weite Strecken wieder zugeweht waren, er die Route im "flash-Modus" beging und im Prinzip zum ersten Mal in diesem "Speed-Stil" mit Bergsteigerausrüstung unterwegs war. Herzliche Gratulation Hari!!! Es war mir eine Ehre dich mit dem Spektiv zu beobachten und deine fast gesamte Begehung mitzuerleben. Das sah einfach nur beeindruckend aus! Flüssig, schnell, leichtfüssig und unheimlich souverän. Geiler Siech!
Kommentar schreiben
Frantz (Donnerstag, 09 Februar 2023 16:10)
Respekt, sieht voll super aus!